Kunst in Chemnitz: Begehungen 2020 "Entwürfnisse"

Vater, Mutter und ihre aufgeweckte 6-jährige Tochter erkunden die Begehungen. Die Eltern kennen die leerstehende Kaufhalle noch von früher und kauften hier mit ihrer Familie wöchentlich ein, zeigen aber ansonsten kaum tiefergehendes Interesse an den Texten der Ausstellung, Interpretationen, den Führungen oder angeregten Diskussionen, die um sie herum stattfinden. Sie sehen einige Plastiken im Nebenraum.

Frau: Iiih, das sieht ja schon eklig aus. Wer findet denn sowas hübsch?
Kind: Ich find das hübsch!
Mann: Es muss ja nicht jedem alles gefallen, aber das ist schon etwas merkwürdig.
Kind: Da sieht wie Essen aus und glänzt so schön.
Frau: Stimmt. Denkt ihr, man kann das anfassen?

Die Frau dreht sich leicht verstohlen um, auch wenn ihr Entschluss bereits gefasst scheint. Kurz darauf macht sie einen Schritt vorwärts, berührt das Exponat. Ihr Mann und Tochter folgen.

In den letzten 2 Jahren haben wir uns als Kombinat Lump sehr viel mit der Frage beschäftigt, wie Kunst für die Allgemeinheit erschlossen werden kann. Wie geben wir jedem die Möglichkeit, Kunst zu erfahren und zu begreifen? Wie sorgen wir dafür, dass Kunst nicht nur als Hobby einer „Kulturelite“ zu begreifen ist, sondern fundamental für jeden relevant?

Auch trotz anfänglicher Ablehnung beim Blick auf die Plastiken, haben die Begehungen 2020 fast unbemerkt genau diese Fragen beantwortet. Die Familie musste keinen Ausstellungstext lesen oder Hintergrundwissen haben, um der Intention der Künstlerin zu folgen. Ihr Werk ist an einen verbotenen Blick in Hieronymus Bosch’s Garten der Lüste angelehnt, der zum Anfassen anregen soll, aber dennoch durch die offensichtliche Opulenz und tief schwelender Lust auch eine gewisse Ablehnung auslösen soll. Kunst wurde plötzlich begreifbar.

Die Leuchtstoffrohren surren fast unhörbar und leuchten beständig. In der Ecke mit der ehemaligen Wursttheke hängen plötzlich Eindrücke verschiedener Wohnorte einer Künstlerin, statt aktuellen Wochenangeboten. Der Boden ist verdreckt, die Decke löchrig, aber immer noch sind die Räume durch ihre markante Struktur eindeutig als Innenraum der alten Kaufhalle erkennbar.

Ein großer Erfolg der Begehungen 2020 war es Kunst nicht nur begreifbar zu machen, sondern sie auch für den Interessenten direkt in den eigenen Verständnishorizont einzubetten und damit Berührungsängste abzubauen. Nicht nur haben sich viele der Exponate mit Heimat, Identität und geteilten Erfahrungen beschäftigt, sondern durch ihre Umgebung auch geschafft, dass Besucher einen perfekten Nährboden hatten, um die Vielzahl an Ideen aufzunehmen und zu verarbeiten.

Der Mensch steht im Mittelpunkt des Besuches, ist Betrachter und Exponat zugleich und wird thematisiert, befragt, betrachtet und eingebunden. Erneut schaffen es die diesjährigen Begehungen den Besucher durch eine direktere Verbindung tiefer in das Geschehen zu ziehen.

Ein Raum gefüllt mit Dingen, die von Chemnitzern verschenkt wurden: Äpfel, die der Garten im Überfluss produziert hat. Das ehemalige Lieblingssofa der Großmutter. Ein Stilleben, dass nicht mehr in die modern eingerichtete Wohnung passt. Flaschen einer DDR-Limonade, die in einem alten Lagerhaus gefunden wurden. Eine Momentaufnahme an Gutmütigkeit mit Geschichten, die von dir oder deinen Nachbarn stammen könnten. Wir sind hier, Chemnitz ist hier.


Wer beide Teile der Ausstellung besuchen wollte, musste einige Minuten durch den Stadtteil Heckert laufen, was eine komplett unerwartete Frage aufwarf: Was ist hier eigentlich passiert? Der Stadtteil, der mit seinen zahlreichen Plattenbauten für den Inbegriff der uninspirierten Chemnitzer Siedlungsbemühungen der DDR-Zeit stammt, zeigt plötzlich Farbe. Wer hier aufgewachsen ist und einige Jahre nicht mehr da war, reibt sich verwundert die Augen über hochmoderne Einfamilienhäuser, bunte Farben, freien Platz und grüne Wiesen.

Kunst erlaubt uns (Wieder-)Entdeckung eines totgeglaubten Stadtteils. Wir  bekommen den Spiegel vorgehalten für lokale Errungenschaften und erkennen uns als Chemnitzer neu.

Was antwortest du wenn dich jemand fragt, was dir in Chemnitz besonders auffällt? Hast du überhaupt spontan eine Antwort dafür? Die Begehungen und andere Kunstaktionen erlauben uns etwas ganz besonderes: Einen neuen Blickwinkel kennenzulernen.

Ist euch aufgefallen, dass Chemnitz unglaublich viele leerstehende Bäcker hat? Unser gesamtes Stadtbild von Typographie (Proletarier aller Länder!) geprägt ist, statt bildlicher Sprache? Überhaupt wenig Kunst im öffentlichen Raum zu finden ist? Uns ehrlich gesagt auch nicht, eben weil das unser Normalzustand ist, den wir jeden Tag sehen.

Wir benötigen den Blick und Eindrücke von außen. Seien es die erheiternden, aber irgendwie doch inspirierenden Versuche Telekommunikationsmasten in der natürlichen Vegetation zu „tarnen“, oder die Gegenüberstellung von identischen Fotos aus Chemnitz und Ljubliana, die es teilweise unmöglich machen herauszufinden, wo das Wir anfängt und das Ihr beginnt.

Wir Chemnitzer haben oft eine etwas zwiespältige Beziehung zu unserer Stadt. Der Gedanke eines Tages den Nischel hinter uns zu lassen, in aufregende, große, neue Städte zu ziehen oder in das nahegelegene breite Kultur- und Abendlebensspektrum von Leipzig und Dresden einzutauchen liegt nicht fern. Aber auch wenn wir unsere Heimat kurz verlassen, kommen viele doch immer wieder zurück, eben weil die Entwicklungen der letzten Jahre derart spürbar sind.

Auch Chemnitz kann Kultur und Kunst. Aber vielleicht brauchen wir einfach einen anderen Ansatz, um Kunst auch in unserer „Arbeiterstadt“ zugänglich zu machen und die Begehungen 2020 haben dafür ein fantastisches Entwürfnis vorgeschlagen und jetzt ist es an uns, davon zu lernen.

Vater, Mutter und ihre aufgeweckte 6-jährige Tochter erkunden die Begehungen. Die Eltern kennen die leerstehende Kaufhalle noch von früher und kauften hier mit ihrer Familie wöchentlich ein, zeigen aber ansonsten kaum tiefergehendes Interesse an den Texten der Ausstellung, Interpretationen, den Führungen oder angeregten Diskussionen, die um sie herum stattfinden. Sie sehen einige Plastiken im Nebenraum.

Frau: Iiih, das sieht ja schon eklig aus. Wer findet denn sowas hübsch?
Kind: Ich find das hübsch!
Mann: Es muss ja nicht jedem alles gefallen, aber das ist schon etwas merkwürdig.
Kind: Da sieht wie Essen aus und glänzt so schön.
Frau: Stimmt. Denkt ihr, man kann das anfassen?

Die Frau dreht sich leicht verstohlen um, auch wenn ihr Entschluss bereits gefasst scheint. Kurz darauf macht sie einen Schritt vorwärts, berührt das Exponat. Ihr Mann und Tochter folgen.

In den letzten 2 Jahren haben wir uns als Kombinat Lump sehr viel mit der Frage beschäftigt, wie Kunst für die Allgemeinheit erschlossen werden kann. Wie geben wir jedem die Möglichkeit, Kunst zu erfahren und zu begreifen? Wie sorgen wir dafür, dass Kunst nicht nur als Hobby einer „Kulturelite“ zu begreifen ist, sondern fundamental für jeden relevant?

Auch trotz anfänglicher Ablehnung beim Blick auf die Plastiken, haben die Begehungen 2020 fast unbemerkt genau diese Fragen beantwortet. Die Familie musste keinen Ausstellungstext lesen oder Hintergrundwissen haben, um der Intention der Künstlerin zu folgen. Ihr Werk ist an einen verbotenen Blick in Hieronymus Bosch’s Garten der Lüste angelehnt, der zum Anfassen anregen soll, aber dennoch durch die offensichtliche Opulenz und tief schwelender Lust auch eine gewisse Ablehnung auslösen soll. Kunst wurde plötzlich begreifbar.

Die Leuchtstoffrohren surren fast unhörbar und leuchten beständig. In der Ecke mit der ehemaligen Wursttheke hängen plötzlich Eindrücke verschiedener Wohnorte einer Künstlerin, statt aktuellen Wochenangeboten. Der Boden ist verdreckt, die Decke löchrig, aber immer noch sind die Räume durch ihre markante Struktur eindeutig als Innenraum der alten Kaufhalle erkennbar.

Ein großer Erfolg der Begehungen 2020 war es Kunst nicht nur begreifbar zu machen, sondern sie auch für den Interessenten direkt in den eigenen Verständnishorizont einzubetten und damit Berührungsängste abzubauen. Nicht nur haben sich viele der Exponate mit Heimat, Identität und geteilten Erfahrungen beschäftigt, sondern durch ihre Umgebung auch geschafft, dass Besucher einen perfekten Nährboden hatten, um die Vielzahl an Ideen aufzunehmen und zu verarbeiten.

Der Mensch steht im Mittelpunkt des Besuches, ist Betrachter und Exponat zugleich und wird thematisiert, befragt, betrachtet und eingebunden. Erneut schaffen es die diesjährigen Begehungen den Besucher durch eine direktere Verbindung tiefer in das Geschehen zu ziehen.

Ein Raum gefüllt mit Dingen, die von Chemnitzern verschenkt wurden: Äpfel, die der Garten im Überfluss produziert hat. Das ehemalige Lieblingssofa der Großmutter. Ein Stilleben, dass nicht mehr in die modern eingerichtete Wohnung passt. Flaschen einer DDR-Limonade, die in einem alten Lagerhaus gefunden wurden. Eine Momentaufnahme an Gutmütigkeit mit Geschichten, die von dir oder deinen Nachbarn stammen könnten. Wir sind hier, Chemnitz ist hier.

Wer beide Teile der Ausstellung besuchen wollte, musste einige Minuten durch den Stadtteil Heckert laufen, was eine komplett unerwartete Frage aufwarf: Was ist hier eigentlich passiert? Der Stadtteil, der mit seinen zahlreichen Plattenbauten für den Inbegriff der uninspirierten Chemnitzer Siedlungsbemühungen der DDR-Zeit stammt, zeigt plötzlich Farbe. Wer hier aufgewachsen ist und einige Jahre nicht mehr da war, reibt sich verwundert die Augen über hochmoderne Einfamilienhäuser, bunte Farben, freien Platz und grüne Wiesen.

Kunst erlaubt uns (Wieder-)Entdeckung eines totgeglaubten Stadtteils. Wir  bekommen den Spiegel vorgehalten für lokale Errungenschaften und erkennen uns als Chemnitzer neu.

Was antwortest du wenn dich jemand fragt, was dir in Chemnitz besonders auffällt? Hast du überhaupt spontan eine Antwort dafür? Die Begehungen und andere Kunstaktionenerlauben uns etwas ganz besonderes: Einen neuen Blickwinkel kennenzulernen.

Ist euch aufgefallen, dass Chemnitz unglaublich viele leerstehende Bäcker hat? Unser gesamtes Stadtbild von Typographie (Proletarier aller Länder!) geprägt ist, statt bildlicher Sprache? Überhaupt wenig Kunst im öffentlichen Raum zu finden ist? Uns ehrlich gesagt auch nicht, eben weil das unser Normalzustand ist, den wir jeden Tag sehen.

Wir benötigen den Blick und Eindrücke von außen. Seien es die erheiternden, aber irgendwie doch inspirierenden Versuche Telekommunikationsmasten in der natürlichen Vegetation zu „tarnen“, oder die Gegenüberstellung von identischen Fotos aus Chemnitz und Ljubliana, die es teilweise unmöglich machen herauszufinden, wo das Wir anfängt und das Ihr beginnt.

Wir Chemnitzer haben oft eine etwas zwiespältige Beziehung zu unserer Stadt. Der Gedanke eines Tages den Nischel hinter uns zu lassen, in aufregende, große, neue Städte zu ziehen oder in das nahegelegene breite Kultur- und Abendlebensspektrum von Leipzig und Dresden einzutauchen liegt nicht fern. Aber auch wenn wir unsere Heimat kurz verlassen, kommen viele doch immer wieder zurück, eben weil die Entwicklungen der letzten Jahre derart spürbar sind.

Auch Chemnitz kann Kultur und Kunst. Aber vielleicht brauchen wir einfach einen anderen Ansatz, um Kunst auch in unserer „Arbeiterstadt“ zugänglich zu machen und die Begehungen 2020 haben dafür ein fantastisches Entwürfnis vorgeschlagen und jetzt ist es an uns, davon zu lernen.

2 Responses

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert